Seit einiger Zeit geistert ein neuer Anspruch durch die Welt der Destinationsmanagementorganisationen (DMO). Neben dem Management des Tourismus sehen sich viele Touristiker*innen mit der Forderung nach einer Aufgabenerweiterung auf den gesamten „Lebensraum“ in ihrer Destination konfrontiert. Und fragen sich zurecht, wie das eigentlich funktionieren soll. Eine Einordnung in den internationalen Diskurs über mehr Destinationsverantwortung und was das für die DMO der Zukunft bedeutet.
Für das TN Deutschland Magazin haben wir einen Gastbeitrag verfasst, den Sie hier nachlesen können.
In der Tourismusbranche macht ein neuer Begriff derzeit Karriere: der „Lebensraum“. Der Tourismus müsse zum Gestalter des Lebensraumes werden. Was auf der einen Seite nachvollziehbar klingt, bedeutet andererseits eine heillose Überforderung der ohnehin knappen Ressourcen der meisten DMO. Doch wie kam es überhaupt dazu? Schon lange gilt, dass Tourismusorganisationen mehr sind als Infoservices für Gäste oder reine Vermarktungsagenturen. In zunehmend gesättigten Märkten mit hohem Wettbewerbsdruck und anspruchsvollen Gästeerwartungen stieg die Notwendigkeit, sich mit dem Produkt selbst zu beschäftigen – und im komplexen Kontaktpunktgefüge der Destination stärker im Netzwerk und nach innen zu wirken.
Spätestens seit dem Aufkommen der ersten Overtourism-Debatten ist zudem eine weitere Stakeholdergruppe ins Visier gerückt: die Bevölkerung. Damit stieg auch die Aufgabenkomplexität für die DMO – leider nur selten proportional zum Budget und den Personalkapazitäten (siehe auch Abbildung).
Darüber redet die Branche seit langem. Neu jedoch sind die Dynamik und der Veränderungsdruck, die durch die Transformationstreiberinnen Digitalisierung und Nachhaltigkeit auf den Tourismus einwirken. Das Gemeinwohl, also die ausbalancierte Nutzenverteilung aus dem Tourismus auf alle Stakeholder in der Destination, rückt in den Fokus. Zugleich kann der Tourismus bei den notwendigen Transformationsprozessen eine wichtige Rolle als Impulsgeber und Vernetzer einnehmen. Doch nur wenn viele (private wie öffentliche) Stakeholder interdisziplinär und vernetzt zusammenarbeiten, können die großen Zukunftsthemen angegangen werden. Ein Silodenken wird hingegen eher zu einem Verharren im „old normal“ führen und neue Herausforderungen nicht lösen.
Die Notwendigkeit zur Transformation zwingt die DMO in eine ganzheitliche Verantwortung für die Destination.
Das ist der Ausgangspunkt, an dem sich der Begriff der „Lebensraumgestaltung“ kristallisiert. Doch die Vokabel ist umstritten, zum einen aufgrund der historischen Vorbelastung, zum anderen durch den daraus abzulesenden unrealistischen Anspruch einer Allzuständigkeit an die DMO. Im internationalen Diskurs ist hingegen von anderen, lösungsorientierteren Begrifflichkeiten zu lesen, nicht zuletzt von „destination stewardship“, von dem auch bei Dachorganisationen wie der Welttourismusorganisation (UNWTO), dem World Travel & Tourism Coucil (WTTC) oder dem Global Sustainable Tourism Council (GSTC) immer häufiger die Rede ist. Im „Destination Stewardship Yearbook“ des GSTC finden sich zudem zahlreiche Beispiele aus aller Welt, die sich dem Ansatz widmen, darunter Vorzeigeinitiativen wie die „destination stewardship councils“ in Sedona (Arizona/USA) oder der Region Snæfellsnes (Island).
Auch wenn sich der Begriff nur schwer ins Deutsche übersetzen lässt – gemeint ist hier stets eine ganzheitliche Verantwortungsübernahme für die Destination ohne den überfordernden und letztlich illusorischen Auftrag, in allen Bereichen des „Lebensraumes“ eine führende (Management-)Rolle übernehmen zu müssen. Daher plädieren wir für eine sinngemäße Übertragung des internationalen Ansatzes auf den deutschsprachigen Raum: Destinationsverantwortung.
Der Auftrag an die DMO der Zukunft ist damit benannt: Eine holistische, netzwerkorientierte Destinationsverantwortung löst das häufig noch sehr isoliert denkende Tourismusmanagement ab. Die DMO wird zur Begleiterin von Transformationsprozessen und Mit-Hüterin des Gemeinwohls in der Destination. Doch das ist leichter gesagt als getan, denn die vorhandenen Strukturen und Prozesse sind auf diese neue Rolle nicht vorbereitet.
Destinationsverantwortung braucht neue Organisations- und Partizipationsstrukturen.
Denn um neue Verantwortung für die Destination tatsächlich annehmen zu können, braucht es zunächst eine kollaborative Vision und ein gemeinsames Verständnis über den (touristischen) Erfolg. Für die Arbeit der DMO heißt das, zu definieren, was eigentlich – jenseits des stetigen Übernachtungswachstums – eine erfolgreiche Arbeit ausmacht, welche und wie Erfolgskriterien gemessen werden sollen. Die Berücksichtigung der Interessen aller Stakeholder ist dafür unabdingbar, wird aber nur gelingen, wenn sich neue Formate der Kollaboration und Partizipation durchsetzen – eine neue, ehrlich gemeinte Co-Kreation in der Destinationsentwicklung sozusagen.
Die DMO könnte hier durchaus einen wertvollen Beitrag leisten, braucht dazu aber zum einen die Legitimation, zum anderen die Schnittstellen zu den relevanten Bereichen des „Lebensraumes“, die auch Auswirkungen auf die Lebens- und Erlebnisqualität und somit auf das touristische Produkt haben: Stadtentwicklung, Regionalplanung, Standortmarketing, Wirtschaftsförderung, Mobilität, Wohnraum, Arbeitsmarkt, Kultur, Bildung und vieles mehr. An all diesen „Tischen“ mitgehört zu werden, wo immer nötig die touristische Perspektive einzubringen und im Sinne des Tourismus mitzugestalten sowie andersherum alle anderen Bereiche proaktiv an den eigenen Tisch einzuladen, muss die Maßgabe für die DMO der Zukunft sein. Es geht also um die Mit(!)gestaltung von „Lebensräumen“ sowie die branchenübergreifende Partizipation, Impulsgebung und Mitwirkung an möglichst vielen Austauschformaten jenseits des Tourismus. So können sich auch projektbezogen agile, interdisziplinäre Projektteams zusammenfinden, die gemeinsam an Projekten für eine lebens- und erlebenswerte Destination arbeiten.
Individuelle Lösungen statt „one-fits-all“. Sonst droht der Tourismus, seine Gestaltungskraft zu verlieren.
Derzeit erproben erste Destinationen Modelle, wie das in der Praxis funktionieren kann. Allzu häufig wird dabei vorschnell eine Lösung präferiert: die Fusion von Tourismusorganisationen und Standort- bzw. Wirtschaftsförderung, inspiriert von erfolgreichen Beispielen aus Südtirol, Allgäu und Co. Dabei läuft der Tourismus jedoch Gefahr, als eigenes Aufgabengebiet abgewertet bzw. anderen Bereichen untergeordnet zu werden und so seine Impulswirkung und Gestaltungskraft eher zu verlieren als auszubauen.
Zudem erschweren große öffentliche Strukturen die Bildung der für eine ganzheitliche Transformation dringend benötigten agilen Netzwerke und Public-Private-Partnerships. Hier wünschen wir uns eine deutlich differenziertere Betrachtung der spezifischen Rahmenbedingungen und Herausforderungen in den Destinationen. Auch innovative, neue Lösungsansätze sollten dabei in Erwägung gezogen werden, beispielsweise eine stärkere organisatorische Trennung von Destinationsmarketing und Destinationsmanagement. Gerade im Kontext agiler und resilienter Organisationsstrukturen darf es keine vorschnellen “one-fits-all“-Lösungen geben. Nur so können der Tourismus und die „DMO der Zukunft“ gestärkt aus der aktuellen Debatte hervorgehen.
Da Einwohner*innen einen großen Einfluss auf das Erlebnis der Gäste vor Ort haben können, ist es wichtig, ein positives Tourismusbewusstsein in der Bevölkerung zu pflegen. Und letztlich sind sie ja selbst in ihrer Freizeitgestaltung und als Tagesgäste Teil der touristischen Anspruchsgruppen, denn allzu oft wird Tourismus immer noch mit Übernachtungstourismus gleichgesetzt. Im Sinne einer ganzheitlichen Destinationsverantwortung müssen daher auch Einheimische frühzeitig und aktiv bei der Tourismusentwicklung mitgedacht und einbezogen werden.
Wichtige Grundlage dafür ist es, das Stimmungsbild der einheimischen Bevölkerung regelmäßig zu erheben, und so positive wie negative Auswirkungen des Tourismus, aber auch Aspekte wie die Zufriedenheit mit der Freizeitinfrastruktur herauszuarbeiten sowie frühzeitig Veränderungen und Handlungsbedarfe zu identifizieren, an denen gemeinsam im Sinne des Gemeinwohls gearbeitet werden kann. Die dwif-Bevölkerungsbefragung zur Tourismusakzeptanz ermöglicht es zudem durch die bundesweit einheitliche Methodik, die Situation vor Ort einzuordnen und Diskussionen zu versachlichen.
Welche Chancen in der Bürger*innenbeteiligung stecken, zeigt das Beispiel Lenggries. In dem stark touristisch geprägten Ort wurden wir im Herbst 2022 mit der Durchführung einer Bevölkerungsbefragung beauftragt. Ziel: Die Bevölkerung noch stärker an der (touristischen) Entwicklung des Ortes zu beteiligen. 870 Lenggrieser*innen ab 16 Jahren nahmen teil, immerhin rund 10 % der heimischen Bevölkerung über 16 Jahre. Die Ergebnisse zeigen, dass die Menschen vor Ort dem Tourismus positiv gegenüberstehen und dessen wirtschaftliche Bedeutung sowie positive Effekte deutlich wahrnehmen. Die Befragten nutzen selbst die freizeittouristischen Angebote in der Region und verhalten sich gastfreundlich gegenüber Besucher*innen.
Doch es kamen auch Störfaktoren zur Sprache - insbesondere das hohe Aufkommen von Tagesbesucher*innen. Das führt dazu, dass für fast ein Fünftel der Bevölkerung die negativen Auswirkungen des Tourismus überwiegen. Der Lenggrieser Gemeinderat nahm sich die Ergebnisse zu Herzen und votierte einstimmig dafür, ein Bürger*innenforum ins Leben zu rufen, um in einen intensiven Dialog über Maßnahmen und Lösungsansätze einzusteigen. Unter Mitwirkung des dwif fand bereits ein erstes Forum im März 2023 statt. Die dort gesammelten Vorschläge fließen nun in die Arbeit des Lenggrieser Gemeinderates ein.
Tourismusakzeptanz und das Tourismusbewusstsein der Bevölkerung sind zwei der Top-Themen im Deutschland-Tourismus. Finden Sie mit uns gemeinsam heraus, wie Bewohner*innen den Tourismus für ihren Wohnort bewerten und erhalten Sie so gezielte Ansatzpunkte für Ihr Destinationsmanagement.
Wir möchten unser Wissen teilen und gemeinsam mit Ihnen Tourismus neu denken. Unser Online-Format "dwif-Impulse" bietet regelmäßig spannende Gelegenheiten, um sich virtuell zu den Themen auszutauschen, die uns in der Tourismusbranche bewegen. Sehen wir uns?